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damals in seinen Gedanken verknüpften und wie-
der auflösten. All das hatte sein Gedächtnis als
unnütz verworfen. Dagegen hatte es zufällig ein
Häuflein von winzigen Eindrücken bewahrt, die
herzzerreißend, aber nicht belastend waren. Es
hatte die Stimmen, den Schmutz, die Regenschir-
me, die Leute und die Nacht bewahrt.
Oktober 1977
Borghesia
Das Lied vom Bürgertum
Einer Frau, die niemals Tiere gehalten hatte,
wurde ein Kätzchen geschenkt. Es wurde ihr in
einem Schuhkarton mit Löchern im Deckel
gebracht. Zugleich drückte man ihr eine schottisch
karierte Tragtasche in die Hand, die ein Paket mit
Sand, ein Wännchen aus gelbem Kunststoff mit
dem Relief eines Katzenkopfes, ein Fläschchen mit
Vitamintabletten und eine Sprühdose mit einem
Desodorans enthielt, das »Aprilbrise« hieß. Die
schottisch karierte Tasche, sagte ihr der alte,
gebrechliche, traurige Diener, der in ihrer Woh-
nung erschienen war, müsse sie ihm wieder
zurückgeben. Er war der Diener der Signora
Devoto. Als sie einige Abende zuvor aus dem Kino
kamen, hatte Signora Devoto ihr gesagt, Katzen
seien eine wunderbare Ressource. Von ihnen gehe
ein tiefes Gefühl der Stabilität, der Ruhe und des
Friedens aus. Als dieses Kätzchen aus seinem
Karton hervorgeholt wurde, flitzte es ins Wohn-
zimmer, kletterte die Vorhänge hinauf und blieb
auf der Schabracke hocken. Es war ein unglaublich
kleines milchkaffeefarbenes Kätzchen mit brauner
Schnauze, braunen Pfoten und einem kleinen,
kurzen gebogenen Schwanz, und der Diener sagte,
es handele sich um einen Siamkater von zweiein-
halb Monaten, ein Junges der Katze, die der
Mutter der Signora Devoto gehöre. Eine Katze
müsse zum Schlafen immer einen Korb und eine
Decke haben und  um Himmelswillen  Wasser.
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Für eine Siamkatze seien Reis und Fisch die beste
Ernährung, der Fisch müsse entgrätet sein und der
Reis sehr weich gekocht.
Die Frau hieß Ilaria Boschivo. Sie war seit einigen
Jahren Witwe. Sie war mager, sehr verrunzelt, mit
kurzem grauem, wolligem Haar und großen
blauen Augen. Sie lebte allein. In der Wohnung
nebenan wohnten ihre Tochter und ihr Schwieger-
sohn, und in der Wohnung darüber lebte ihr
Schwager, Pietro Boschivo, ein Antiquar. Der
Schwager unterhielt sie alle. Er war der Bruder
ihres verstorbenen Mannes, Giovanni Boschivo,
eines Theaterunternehmers. Zwischen der Woh-
nung ihres Schwagers und der ihren gab es eine
kleine Wendeltreppe. Schwiegersohn und Toch-
ter, beide achtzehnjährig, hatten weder Geld noch
Lust zu kochen und aßen gewöhnlich bei ihr. Die
Tochter hieß Aurora und der Schwiegersohn
Aldo, mit Nachnamen Palermo. Ilaria kochte
zusammen mit ihrem Dienstmädchen namens
Cettina, einer großen gebeugten Alten mit langer
Nase, die sie seit vielen Jahren im Haus hatte. Bei
ihr aß auch das Dienstmädchen des Schwagers,
Ombretta genannt, eine untersetzte, breite dun-
kelhäutige und kraushaarige Person, die aus Brin-
disi gekommen war. Ombretta kochte nicht, weil
sie nicht kochen konnte, und sie wusch kein
Geschirr ab, weil sie Rheumatismus in den Hän-
den hatte oder zumindest vorgab, ihn zu haben.
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Der Schwager sagte, sie sei für ihn vollkommen
unbrauchbar, er behalte sie nur aus Mitleid, weil
ihre Verwandten sie sonst auf die Straße schickten.
Ombretta verbrachte ihre Tage im Unterrock auf
der Terrasse des oberen Stockwerks, um sich
Schenkel und Rücken zu bräunen, und die Abende
im unteren Stockwerk, wo der Fernseher stand.
Ihr Zimmer war im oberen Stockwerk, aber sie zog
es vor, immer im unteren Stockwerk und zwar im
Fremdenzimmer zu schlafen, wo es eine wunder-
schöne Blumentapete gab und das Bild einer Alten
im Kopftuch, das sie an ihre Großmutter erin-
nerte. In den verschiedenen Bädern oben und
unten vergaß sie ihre zerrissenen Büstenhalter und
ausgeleierten Hüfthalter und einen Turban aus
grünem Frotte mit einer Perle, den sie morgens
aufsetzte, um das zu tun, was sie »die Arbeiten«
nannte, das heißt ihr eigenes Bett zu machen.
Diesen Turban hatte ihr eine Doktorin geschenkt,
bei der sie gleich nach ihrer Ankunft in Rom zwei
Wochen in Stellung gewesen war. Von diesen
beiden Wochen sprach sie andauernd, und man
hatte den Eindruck, daß sie Jahrhunderte gedauert
hatten. Die Doktorin hatte sie sehr gern gemocht,
aber es hatte böse Menschen gegeben, die schlecht
von ihr sprachen.
Ilarias Schlafzimmer hatte einen Erker, der sich zu
einem kleinen Balkon hin öffnete. In diesem Erker
installierte sie das gelbe Wännchen mit dem Sand,
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den Korb, die Decke und das Wasser. Ihre Tochter
Aurora fragte sie, warum sie nicht alles auf den
Balkon stelle. Sie antwortete, sie befürchte, der
Kater stürze in das untere Stockwerk. Sie freute
sich über das Kätzchen, wußte aber nicht, was ihr
Schwager dazu sagen würde. Er pflegte um die
Essenszeit die Wendeltreppe herunterzukommen,
wenn er nicht im Restaurant oder bei der Signora
Devoto aß, mit der er seit vielen Jahren ein müdes
Verhältnis hatte.
Doch auch an den Tagen, an denen er andernorts
aß, pflegte er für eine halbe Stunde herunterzu-
kommen, sich zu Füßen der Treppe in einen Sessel
zu setzen und sich von Cettina einen lauwarmen
Lindenblütentee bringen zu lassen. Sie sahen, wie
er groß mit gerunzelter Stirn in seiner schäbigen
amaranthfarbenen Samtjacke herunterkam, die er
winters wie sommers trug, das Zimmer mit sei-
nen strengen schwarzen Augen musterte, ja es
beinahe mit seiner langen schmalen Nase
beschnupperte, sich setzte, aus einem Schubfach
die Spielkarten hervorholte, eine Patience legte
und den Tee schlürfte. Dann ging er mit einem
stets sehr knappen Gruß, den er, sobald er oben
an der Treppe angelangt war, herunterrief. Ohne
seine amaranthfarbene Jacke, sein graues gelock-
tes Haar, sein schönes, hageres, zartes Gesicht
von dreieckigem Zuschnitt, seinen strengen
Mund mit den kräftigen weißen Zähnen wirkte
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das Zimmer plötzlich leer, langweilig und ge-
wichtlos.
Ilaria wußte, daß der Schwager mit Tieren alles
andere als zärtlich war. Und da er es war, der den
Teppichboden ausgesucht hatte und ihn hatte
auslegen lassen, konnte es geschehen, daß er sagte,
Katzen ruinierten die Teppichböden. Und genau
das tat er. Er fuhr fort, Teppichböden nähmen den
Geruch von Katzen und Katzenflöhen an und
dieser Teppichboden werde sicher ein Flohnest
werden. Ilaria wandte ein, wegen des Geruchs
habe sie »Aprilbrise« versprüht. Pietro fuhr fort,
er hasse den Geruch von »Aprilbrise«, die Devotos
gebrauchten dieses Desodorans und er habe sie
gebeten, es nie wieder zu versprühen. Ombretta
behauptete, sie spüre, wie die Flöhe ihr auf die
Beine sprängen. Sie streckte ihr braunes muskulö-
ses Bein und ihren ungefügen, schmutzigen Fuß
vor, der in einem goldenen Pantoffel steckte. Die
Doktorin, jene, bei der sie vierzehn Tage lang
gewesen war, besaß vier Katzen, aber es waren
Angorakatzen, die keine Flöhe hatten. Aurora
erklärte, von nun an müsse man jeden Tag mit der
Teppichmaschine über den Boden gehen. Sie war
bemerkenswert faul, liebte es aber, große Reini-
gungsaktionen zu planen.
Ilaria hatte den Eindruck, daß von dieser Katze
keinerlei Ruhe oder Frieden ausgingen, sondern
vielmehr Unruhe und beklommene Erwartungen.
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Es war eine schrecklich nervöse Katze. Sie
schnellte und flitzte überall hin, versteckte sich
unter den Schränken und sprang dann plötzlich auf
ihren Kopf, spielte mit ihrem Haar und lutschte
daran. Sie schien zu wissen, daß Ilaria die Person [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]
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